buchtipp
Christoph Scheurle: Die deutschen Kanzler im Fernsehen


Dreieck: Inszenierung, Rolle, Figur
 

VON MICHAEL RÖSENER


Staatstheater
Christoph Scheurle, Die deutschen Kanzler im Fernsehen

Grundlagenwerk über das Medienverhalten deutscher Bundeskanzler Wer hat sich noch nicht vor dem Fernseher über die gekünstelte Art von Politikern geärgert, wenn sie in gekonnter Manier den Fragen von Journalisten ausweichen und sich im Gegenzug als strahlende Persönlichkeiten präsentieren. "Alles nur Show!", mag man als Zuschauer dann in tiefer Entrüstung ausrufen. Und wer kennt sie nicht, die Reden vom "politischen Theater" und den "Staatsschauspielern".

Christoph Scheurle nimmt diese Gemeinplätze in seiner an der Universität Hildesheim eingereichten Dissertation beim Wort und gibt ihnen erstmals die sachliche Basis, die ihnen in der heutigen Medienöffentlichkeit seit langem gebührt. In der Arbeit "Die deutschen Kanzler im Fernsehen" untersucht er aus theaterwissenschaftlicher Perspektive die Formen der Selbstdarstellung von Bundeskanzlern. Dafür dienen ihm etablierte TV-Formate, wie Wahlwerbespots, Interviews und TV-Duelle als reiches Arbeitsmaterial, um das Medienverhalten der, wie Scheurle sie nennt, Kanzlerdarsteller Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl und Merkel zu analysieren. Fern jedem Zynismus und kulturkritischer Medienschelte weist Scheurle darauf hin, dass theatrale Darstellung in der politischen Präsentation nicht zwangsläufig mit Unehrlichkeit verwechselt werden dürfe. Vielmehr befänden sich Bundeskanzler in einer Rolle, die sowohl durch das mediale Umfeld wie auch durch die Erwartungen der Fernsehzuschauer in strengen Konventionen vorgeprägt sei. Scheurle verortet die Kanzlerdarstellungen innerhalb eines Wahrnehmungsdreiecks, das sich zwischen den Polen Inszenierung, Rolle und Figur befindet. In diesem Bezugsrahmen seien die jeweiligen Kanzler gezwungen, ihre Rolle individuell zu definieren, zu gestalten und vor allem von der Interpretation ihres Vorgängers abzugrenzen. Ziel sei es dabei grundsätzlich die eigene Glaubwürdigkeit und Kanzlerfähigkeit herauszustellen. So analysiert Scheurle z.B. das ungleiche Auftreten des offensiv experimentierfreudigen Medienkanzlers Schröder mit der sich betont sachlich und unemotional gebenden Merkel. Dabei bewertet Scheurle weder die eine noch die andere Darstellungsstrategie, sondern zeigt auf, dass sich beide als individuelle Ausgestaltungen der Rolle Bundeskanzler beschreiben lassen.

An vielen Stellen kommt diese Arbeit reichlich verkopft daher, vor allem wenn sich der Leser durch die theater- und medienwissenschaftlichen Grundlagendebatten im ersten Teil hindurchkämpfen muss. Doch die Mühe wird belohnt durch eine fundierte Grundlage, die sich für alle diejenigen empfiehlt, welche das anstehende Medienspektakel im Vorfeld der Bundestagswahl jenseits der üblichen Binsenwahrheiten begreifen wollen.

Christoph Scheurle, Die deutschen Kanzler im Fernsehen.
Theatrale Darstellungsstrategien von Politikern im Schlüsselmedium der Nachkriegsgeschichte. transcript Verlag, Bielefeld 2009. www.transcript-verlag.de................................Das Buch.