buchtipp
Martin Korte: Wir sind Gedächtnis



Hippocampus, Amygdala und zurück...!
 



VON MICHAEL RÖSENER


Martin Korte: wir sind Gedächtnis

Reise zu den neuronalen Grundlagen für Identität und Persönlichkeit

Die Grundthese, die der Neurologe Martin Korte ins Zentrum stellt, wird bereits im Titel des 2017 veröffentlichten Buches deutlich: Die Identität des Menschen wird durch das Gedächtnis bestimmt. Ob es um kulturelle Zugehörigkeit, den eigenen Wissensschatz, Gewohnheiten oder prägende Erfahrungen geht - immer liegt der Ausgangspunkt in dem, was wir bewusst oder unbewusst erinnern.

Doch das Gedächtnis ist nicht nur für das Erinnern zuständig, sondern auch für das Speichern und Sortieren von neuen Informationen. Etwa 400.000 Sinneseindrücke prasseln pro Sekunde über Augen, Gehör, Nase, Mund und die Haut auf das menschliche Gehirn ein. Die Meisterleistung des Gedächtnisses besteht darin, diese Eindrücke zuzuordnen, zu beurteilen, abzulegen und in vielen Fällen auch wieder zu löschen, was dazu führt, das viele Sinneseindrücke im Alltag gar nicht direkt wahrgenommen werden und die Arbeit des Gehirns erst dann auffällt, wenn es nicht mehr richtig funktioniert. Ein ganzes Kapitel widmet Korte dementsprechend der Funktion des Vergessens. Auch in diesem Fall wird die Bedeutung erst dann augenscheinlich, wenn dieser sonst normale Vorgang nicht mehr automatisch bewältigt wird. Korte nennt hier die Beispiele von traumatischen Erlebnissen, die sich so stark eingeprägt haben, dass sie für die Betroffenen eine dauerhafte Belastung sind und die Sucht, die aufgrund der Unfähigkeit einstige Glücksmomente vergessen zu können auch als eine "erlernte Krankheit" bezeichnet werden kann.

Evolutionär gesehen, so führt Korte weiter aus, sind Erinnerungen nicht dazu da, um schwärmerisch in der Vergangenheit zu schwelgen, sondern um einen Erfahrungsvorrat zu erwerben und so Vorgänge in der Zukunft abschätzen zu können, was auch der Grund dafür ist, dass Erinnerungen nicht 1:1 wiedergegeben werden, sondern z.B. ein Ereignis aus der Vergangenheit bei jedem erneuten gedanklichen Aufruf an die gegenwärtige Situation angepasst und somit verändert wird. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch das Thema der "false memories", also das Erinnern an Ereignisse oder Fakten, die vom Gedächtnis falsch re-konstruiert werden. Korte verdeutlicht das exemplarisch an einer Konferenz von Psychologen, deren Teilnehmer im Anschluss nach den Inhalten der Konferenz befragt wurden und sich zwei Wochen später gerade einmal noch an 8% der Inhalte erinnern konnten - und von diesen 8% haben die Teilnehmer lediglich 50% richtig erinnert, wohingegen die restlichen 50% an andere Orte oder in andere Kontexte platziert wurden.

Insgesamt zitiert Korte an vielen Stellen aktuelle Studien aus dem Umfeld der Gehirnforschung, wodurch einerseits der aktuelle Stand der Forschung vermittelt wird und andererseits die einzelnen Themenschwerpunkte an praktischen Beispielen anschaulich werden. Aufgelockert werden die teils sehr komplexen Textpassagen (wenn es z.B. im 3. Kapitel um die neuro-biologischen Grundlagen von Gedächtnisprozessen geht) mit zahlreichen Zitaten und Grafiken. Auffallend viele Bezüge bezieht Korte auch aus einer weitreichenden Kulturgeschichte, und so kommt es zur überraschenden und bereichernden Erkenntnis, dass bereits Jane Austen, Virginia Woolf oder Augustinus die Faszination für das Gedächtnis teilten.

Der Autor liefert mit seiner neuesten Veröffentlichung einen umfassenden Überblick zu einem Gegenstand, über den die Forschung in den vergangenen Jahren viel Neues herausgefunden hat. Ergänzend geht er auf Bereiche ein, wie das Lernen im Schlaf, Kreativität, Fragestellungen zum Umgang mit digitalen Medien oder die Herausforderungen aufgrund des weltweiten Anstiegs von Demenzerkrankungen. Thematisch bedingt ist festzustellen, dass die Lektüre nicht immer ganz einfach ist, aber Martin Korte erleichtert hier auch den Laien durch eine anschauliche Gestaltung den Zugang zu einem außerordentlich spannenden Forschungsfeld.

Zitat: "Realität ist das Produkt einer überaus beeindruckenden Phantasie." (Wallace Stevens)

Martin Korte: Wir sind Gedächtnis-Verlagsgruppe Random House, München 2017..... Das Buch.