buchtipp
Anne Huffschmid / Kathrin Wildner: Stadtforschung aus Lateinamerika
Neue urbane Szenarien:

Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios

In einem umfangreichen Band stellen die beiden Geisteswissenschaftlerinnen Anne Huffschmid und Kathrin Wilder Ansätze zum Verständnis von lateinamerikanischer Stadtentwicklung zusammen. Der Frage nach Urbanität in einer der am stärksten wachsenden Regionen der Welt, mit Zentren wie Mexico Stadt, Sao Paulo oder Buenos Aires, gehen internationale Forscher verschiedener Disziplinen aus ihren jeweils unterschiedlichen Perspektiven nach. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger Zugang zu komplexen Themen wie Öffentlichkeit, Territorialität und Konflikthaftigkeit in lateinamerikanischen Megastädten.
Mit Beiträgen u.a. von Nestor García Canclini, Carlos Monsiváis und Armando Silva.

  INTERVIEW VON MICHAEL RÖSENER

Huffschmid / Wildner: Stadtforschung aus Lateinamerika

Frau Huffschmid, Frau Wildner - 22 Beiträge von Forschenden unterschiedlicher Disziplinen zu diversen Themenfeldern lateinamerikanischer Stadtforschung sind in dem von Ihnen herausgegebenen Band vereint. Können Sie das komplexe Ergebnis zusammenfassen?
  Kathrin Wildner:
Uns interessieren in dem Band die Perspektiven auf Urbanität. Wir verstehen die Stadt als einen sozialen und diskursiven Prozess, der sich auch als gebaute Umwelt zeigt, in den historischen Zentren oder den sog. Gated Communities. Das ist aber immer auch genutzter und umkämpfter Raum - die praktizierte Stadt. Da geht es etwa um "kreolische Gentrifizierung" oder "Favela Tourismus". Es ist das Städtische, was uns interessiert, lo urbano, wie es sich aus lateinamerikanischer Erfahrung darstellt.
  Anne Huffschmid:
Wir sagen damit nicht, nur so und nicht anders ist die lateinamerikanische Stadt oder Stadtforschung. Aber es gibt doch Achsen und Motive, die sich durchziehen. Etwa das Interesse an territorialen Fragen, allerdings nicht statisch, sondern beweglich, am Alltagsleben orientiert. Oder auch der Fokus auf urbane Gemeinschaften und Urban Citizenship - jenseits dieser klassisch anthropologischen Urban-Tribe-Perspektive. Oder die soziale Macht des Imaginären, die urbanen Imaginarios, wie lateinamerikanische Stadtanthropolgen das nennen, die nicht einfach Phantasien sind, sondern städtisches Handeln beeinflussen.

Was hat Sie motiviert, das Thema der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen?
  Anne Huffschmid:
Viele haben ja Bilder von Mexiko-Stadt oder Sao Paulo als schillernde oder wuchernde Megastädte im Kopf. Aber kaum einer weiß, wie in Lateinamerika selbst über das Städtische nachgedacht wird. Auch in der internationalen Metropolenforschung gibt es diese Blindstelle. Konzepte und Theorien werden fast immer vom globalen Norden auf den Süden projiziert.Da wir als Forschende selbst vieles über Stadt in Lateinamerika gelernt haben, wollten wir den Fokus etwas erweitern.

Stadtzentren gelten Ihnen als konfliktbeladene Verhandlungsräume. Inwiefern ist das beispielhaft an den jüngsten Protesten in brasilianischen Städten erkennbar?

  Anne Huffschmid:
Brasilien ist ein Beispiel dafür, wie sich Straßenproteste da entzünden, wo es um so etwas wie Recht auf Urbanität geht, hier auf Infrastruktur und Mobilität - ein Auslöser waren nicht zufällig die Fahrpreiserhöhungen - sich das aber mit anderen Belangen, etwa der Empörung über Korruption, mischt. Der öffentliche Raum wird hier zur Szenerie, in dem sich Alltag und Politik verschränken.
  Kathrin Wildner:
Noch ein konkretes Beispiel sind die informellen Ökonomien. Bislang hatten die Straßenhändler um Fußballstadien in Rio während der Spiele ihr Auskommen. Mit der großflächigen Inwertsetzung der Städte wird nun auch diese Kleinökonomie geschliffen. Dabei ist diese Informalität ein Strukturmerkmal der Großstädte und keine Anomalie oder Ausnahmesituation.

In einem der Beiträge wird sich auf den Dichter Wallace Stevens bezogen, mit dessen Aussage, man lebe nicht in einer Stadt, sondern in ihrer Beschreibung. Sehen Sie das im Hinblick auf urbane Entwicklungen und Identitäten auch so?

  Kathrin Wildner:
Dahinter steckt ja auch die Frage der Vorstellung oder Simulation von Stadt. Das ist aber ein trügerischer Begriff, denn aus unserer Sicht gibt keine reale Stadt auf der einen Seite und die Fiktion auf der anderen Seite - die Stadt entsteht in den Köpfen, in der Wahrnehmung, den Erfahrungen und vor allem in den Vorstellungen der Menschen. Das sind genau die Imaginarios, von denen schon die Rede war.

Das urbane Lateinamerika wird von Ihnen u.a. als Laboratorium politischer und sozialer Selbstorganisierung beschrieben. Wie sieht das konkret aus?
  Anne Huffschmid:
Selbstorganisation meint hier eher Informalität, die, wie Kathrin sagte, in Lateinamerika - aber nicht nur dort - das urbane Leben zusammenhält. Es geht um Formen des Wohnens, Handelns, Wirtschaftens aber auch Protestierens, die weniger über legal oder illegal zu verstehen sind, sondern eher darüber, dass sie permanent neu ausgehandelt werden, mit, gegen oder jenseits der Institutionen.

  ENDE INTERVIEW

Anne Huffschmid / Kathrin Wildner: Stadtforschung aus Lateinamerika, Transcript Verlag, 06/2013, 464 Seiten, ISBN 978-3-8376-2313-0, EUR 25,90 ....... Das Buch...date: 02.11.2014