buchtipp
Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien

Warum die Mitglieder von der Fahne gehen
 
VON MICHAEL RÖSENER

Unbequeme Fragen

Aufschlussreicher Essay über die deutsche Demokratie

Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien

Seit den 1970er Jahren haben die großen Volksparteien SPD und CDU mit massivem Mitgliederschwung zu kämpfen. Von 1990 an verloren sie insgesamt etwa 40% ihrer Mitglieder und ca. die Hälfte der verbliebenen Parteiaktivisten befindet sich in einem Alter jenseits der 60. Selten haben Parteistrukturen auf nachfolgende Generationen so unattraktiv gewirkt wie heute und selten haben sich die großen Parteien so schwer damit getan, die Verbindung zu ihrer eigenen Stammwählerschaft zu halten.

Der Göttinger Parteienforscher Prof. Franz Walter beschreibt in einem eindringlichen und intensiven wissenschaftlichen Essay mit der aktuellen Krise der Volksparteien eines der zentralen Probleme der deutschen Politik. Ausgangspunkt ist ihm dabei die Idee des Milieus, sozialer und gesellschaftlicher Gemeinschaften, in denen bestimmte Normen und Werte herrschen. In einem weiten historischen Bogen beschreibt Walter Milieus als Bezugspunkte in denen sich die Volksparteien allmählich etablierten und die ihnen als Basis ihres gesellschaftlichen Einflusses dienten. So war es für die CDU anfangs das katholische Milieu und für die SPD die in Vereinen organisierte Arbeiterschaft, aus denen sie nicht nur einen gemeinschaftsstiftenden Traditionsbestand von Mythologien, Ritualen und Vorbildern schöpften, sondern auch parteiinternen Nachwuchs rekrutieren konnten. Unterschiedliche Generationen, Schichten und Kulturen konnten hier geschichtliche Lernprozesse durchschreiten, soziale Veränderungen reflektieren und innerparteiliche Konflikte austragen. Doch Walter zeigt auf, dass den Großparteien diese Kraft zur Integration von unterschiedlichen Gruppen und Interessen in den vergangenen Jahrzehnten abhanden gekommen ist. In groben Zügen zeichnet er die Entwicklungslinien von SPD und CDU nach, beschreibt die innerparteilichen Auseinandersetzungen und zeigt an welchen Stellen sich die Parteiführungen von Basis und ursprünglichen Wertvorstellungen entfernt haben. Als Ergebnis dieser verhängnisvollen Entwicklung konstatiert Walter eine buchstäbliche Heimatlosigkeit der Volksparteien. Nicht nur die SPD hat sich so mit der Agenda-Politik von ihrem Mythos als Vertreterin der unteren Gesellschaftsschichten verabschiedet, auch die CDU stieß mit ihrer radikalen Deregulierungspolitik ab Mitte der 1990er Jahre große Teile ihrer sozialkatholischen, konservativen Stammwählerschaft vor den Kopf. Als Ergebnis dieser Enttäuschungen sieht Walter das Abwandern zu kleineren Randparteien, das Wachsen der Gruppe der Nichtwähler und eine verbittere Abgrenzung von Politik und Parteien in weiten Teilen der Gesellschaft. Wo Politik ihrer Vermittlungsrolle nicht gerecht wird, sondern sich auf die Präsentation des politischen Personals beschränkt, sieht sich der Bürger zunehmend als Kunde, wählt aus dem bunten Regal des Politikerangebotes aus, welche schillernde Persönlichkeit ihm am besten gefällt oder lässt es ganz bleiben. Von Partizipation, Gemeinsinn und Mitbestimmung hält er nichts mehr.

Alternativ zum Parteienstaat wird von Walter die Idee der Bürgergesellschaft diskutiert, die er jedoch aufgrund ihres tendenziell apolitischen Charakters als unzureichend verwirft.

Der hier vorgelegte Essay bietet dem Fachpublikum sicherlich nicht viel neues, doch kommt er mit der gebündelten und gut verständlichen Zusammenfassung des beunruhigenden Status Quos deutscher Politikverdrossenheit zur rechten Zeit für all diejenigen, die das Stellen von Fragen und das Suchen nach Antworten als Teil gesellschaftlicher Verantwortung begreifen.

Franz Walter, Im Herbst der Volksparteien? transcript-Verlag, Bielefeld 2009
Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration.... Das Buch.